Freitag, 13. September 2013

Mittelalterobsession



Als wir von Berlin nach Schaumburg zogen, haben wir nach unserer Gewohnheit die Umgebung erkundet und sind den Einladungen der hier und dort gesammelten Prospekte gefolgt. Schon nach einer kurzen Zeit wurde mir klar, dass die Menschen sich hier gerne historisch umkleiden und andere Epochen nachspielen. Nach drei Jahren bin ich in diesem Eindruck nur stärker gefestigt. Alleine das Mittelalter wird von unterschiedlichen Veranstaltern mehrmals pro Jahr angeboten, und dazu gibt´s noch Schützen- und Erntefeste, Barocktage, natürlich Oktoberfeste und was nicht alles. Für die Bückeburger Hofreitschule ist Barock eher ein Alltag, weil sie es seit Jahren professionell verkaufen, die Führungen durch die umliegenden Städte sind logischerweise auch kostümiert.




Barock, Weserrenaissance, erhabene Haltung und höfische Sitten, Geruch des Wohlhabens als Touristenattraktion – das alles war mir schon klar. Warum das nordeuropäische Mittelalter, Bekämpfung des Germanischen Glaubens, Mangel an Hygiene, Pest, Cholera, Kriege, Kreuzzüge, Brände, Hexenjagd? Und wenn schon, wie kann es in der Gegend erlebt werden, wo alle Hecken geschnitten und Rasenflächen gemäht sind, die Kanalisation funktionsfähig ist, die tatsächlich während des Mittelalters erbauten Gebäude für Touristen schön verputzt sind und sich in den Kasernen, stationierte Soldaten als nicht besonders kampfsüchtig nachweisen? 

Aber genau so, wie die Kinder Kriege nachspielen ohne das Grauen des Krieges auf sich zu ziehen, spielen die Erwachsenen Mittelalter. Und dazu noch: Mittelalter Fans bilden zwar auch eine Subkultur, wie die Gothic Anhänger z.B., aber  im Alltag sind sie meist nicht erkennbar und mischen sich unter das „normale Volk“, im Gegensatz zu oben ernannten. Mir gefällt das Spiel trotzdem.  Ich habe mehrere sogenannte Mittelaltermärkte besucht und gesehen, dass Leute viel Spaß an der Sache haben.

Oft werden auf solchen Veranstaltungen nur die Vorstellungen der einzelnen Menschen oder Gruppen über das Mittelalter abgebildet, natürlich nicht das Mittelalter in sich, mit allen seinen geschichtlichen Wendungen und regionalen Unterschieden, was auch für mich, die ein geringes Wissen darüber hat, klar ist. Nach meinem Gefühl bietet die Mittelalterszene einen gemütlichen Zufluchtsort für Romantiker, Künstler und Handwerker.
 
Was Musik betrifft, mag ich auf alten Instrumenten und ihren Nachbildungen nachgespielte und neuinterpretierte Stücke hören, mit oder ohne Gesang, aber die Bands mit lateinischen Namen mit den auf Hochdeutsch verfassten Texten, sind nichts für mich, obwohl ich ihre künstlerische Freiheit und Bemühungen um die Weiterentwicklung der Richtung respektiere. In unserem Gebiet ist das Mittelalter Spectaculum auf der Mausoleumswiese das Event überhaupt, was das betrifft.




Am meisten schätze ich die Handwerker, die es in der modernen Zeit und Wirtschaft nicht einfach haben. Und zwischen vorhandenem Souvenirkram finde ich immer schöne Sachen und Menschen, die sich mitLeidenschaft dem widmen, was sie tun, und sich Zeit und Mühe geben auch dir darüber zu erzählen, wenn du nur zuhören möchtest. In der Ukraine ist die Tendenz genauso. Die Überflutung von maschinenproduzierten Waren treibt bestimmte Menschen in die Flucht.  Der Wunsch etwas über die Vergangenheit eigener Vorfahren zu erfahren, plus Verlangen nach Handgemachtem, nach von einem Menschen konkret Hergestelltem, plus das Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft, plus gewisse Romantik – reichen schon für den Erfolg.










 







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